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Die soziale Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft hat ein neues klassisches Proletariat, die dauerbedürftige, auf Unterstützung angewiesene Bevölkerungsgruppe: dass Prekariat. Können oder wollen die anderen nicht mehr finanzieren, kommt der Kollaps.

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Die Basis des gesellschaftlichen Wohlstandes liegt insofern maßgeblich in der Verfügbarkeit reproduzierbarer oder substituierbarer Ressourcen.

Wir haben folglich zwei Möglichkeiten, uns dem Begriff „sozial” zu nähern.

Entweder, wir schließen uns einer der systemimmanenten Denkschulen an und beschreiben im Rahmen dieser Denkschule dasjenige, was wir unter sozial zu verstehen gedenken. Es entspräche dieses den klassischen Philosophieansätzen, denen die Überlegungen von Karl Marx bis Ludwig Erhard zugrunde lagen.

Oder wir unternehmen den Versuch, einen zukunftsfähigen, systemübergreifenden Sozialbegriff zu definieren. Dafür spricht, dass im Zeitalter der Globalisierung volkswirtschaftlich und systeminhärent verankerte Sozialbegriffe voraussichtlich keine mittel-, geschweige denn eine langfristige Perspektive haben werden.

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liberté – egalité – fraternité

In der politischen Diskussion hat sich der Begriff „sozial“ maßgeblich in Folge der Französischen Revolution etabliert. Bereits in der revolutionären Phase traten erhebliche Anschauungsunterschiede zwischen den revolutionären Zielen der Beteiligten zutage:

  • liberté / Freiheit als uneingeschränkte Selbstbestimmung des vernünftig agierenden Individuums (im Sinne Kants und des später von Bakunin definierten, libertären Ansatzes),

  • egalité / Gleichheit als ideelle Perspektive der Gleichbehandlung aller Mitglieder einer Gesellschaft vor dem Gesetz und bei der Realisierung der politischen Ziele einer Gesellschaft,

  • fraternité / Brüderlichkeit als hier bereits auf Grundlage christlicher Ideen im Kern angelegter „sozialer“ Anspruch eines nicht nur ideellen, sondern materiellen Ausgleichs zwischen den wohlhabenden und den nicht-wohlhabenden Gruppen der Gesellschaft.

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Die neue Klassengesellschaft

Was sind heute die Voraussetzungen, um in einer Gesellschaft eine Diskussion über Sozialbegriffe führen zu können?

Ganz wesentliche Basis scheint es zu sein, dass innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche Wohlstandsniveaus herrschen. Um eine „Sozialdebatte“ zu führen, muss es Teile der Gesellschaft geben, die gegenüber anderen Teilen deutliche Vorzüge – oder auch Privilegien – genießen.

In der modernen Gesellschaft haben wir uns daran gewöhnt, Wohlstandsniveaus über pekuniären Vermögensumfang zu definieren, und nicht beispielsweise über altruistisches Verhalten, künstlerische Kreativität oder philosophische Intelligenz (um nur drei alternative Möglichkeiten zu nennen). Grundlage sind folglich die monetären oder in monetäre Mittel umwandelbaren Besitzstände des Individuums. Als Weiterführung der mittlerweile historisch überholten Vorstellungen des Karl Marx hätten wir in den hochentwickelten Staaten demnach heute eine Gesellschaft, die aus folgenden Klassen bestünde:

 

Die Vermögenseigner

als jene, die in einem Maße über Vermögenswerte verfügen, dass sie unabhängig von der Erbringung eigener Leistung sind.

 

Die Einkommenswohlhabenden,

die über ihre beruflich-geschäftliche Tätigkeit über ein Maß an monetären Mitteln verfügen, dass sie mittels der von ihnen über den Lebensunterhalt hinaus erwirtschafteten Einkünfte in der Lage sind, sich Vermögenswerte zu schaffen und damit auf ihre Unabhängigkeit von Leistungserbringung hinarbeiten.

 

Die Unbedürftigen,

denen es mittels ihrer beruflich-geschäftlichen Tätigkeit gelingt, ihren Lebensunterhalt ausreichend zu finanzieren ohne unterstützende Maßnahmen des Gemeinwesens abfordern zu müssen – die dabei jedoch auf individuelle Leistungserbringung angewiesen sind.

 

Die Bedürftigen,

die unabhängig von Leistungserbringung nicht aus eigener Kraft heraus in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und insofern auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Hierunter sind nicht nur Langzeitarbeitslose und Frührentner zu subsumieren, sondern auch jene Leistungserbringer, deren Einkünfte für die Deckung des Lebensunterhaltes nicht reichen und die in Folge auf staatliche Subventionen angewiesen sind. In einem Umlage-finanzierten Rentensystem sind letztlich auch Rentner in diese Gruppe zu fassen, da die von ihnen eingebrachten Leistungen nicht als Rücklagesicherung dienen, sondern die Betroffenen davon abhängig sind, dass nachfolgende Generationen ebenfalls bereit sind, die Umlage ohne Garantie auf spätere Eigensicherung zu bedienen.

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Leistungsfiktion und Kollaps

Die soziale Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft hat eine neue Form des klassischen Proletariats geschaffen: Die Dauerbedürftigen als permanent auf Unterstützung angewiesene Bevölkerungsgruppe, im Fachjargon mit Prekariat bezeichnet. Maßgeblich hierfür ist auch die Tatsache, dass die Bedürftigen durch „soziale“ Subventionierung dem ernsthaften Bemühen, mittels eigener Anstrengung in die Gruppe der Unbedürftigen zu gelangen, enthoben sein können. Der Sozialstaat schafft sich hier ein neues Proletariat, dessen Individuen in die Gruppe der Bedürftigen geboren werden und in Folge dessen die Instrumente, sich aus dieser Gruppe heraus zu bewegen, nicht oder nicht ausreichend erlernen. Dieses Proletariat verlässt sich nicht nur auf den Fraternité-Gedanken des Sozialismus, es fordert diesen als Recht ein. In dem Bestreben, gesellschaftliche Konflikte zu vermeiden, werden die Bedürfnis-Ansprüche gesetzlich verankert und organisieren über diesen Weg die bereits erwähnte Belastung der Unbedürftigen mit Leistungsfiktion.

In der Konsequenz unterscheidet sich diese durch die Unbedürftigen zu deckende Leistungsfiktion nicht von der ebenso durch diese Gruppe abzusichernde Leistungsfiktion der Einkommenswohlhabenden. Beide Gruppen decken ihre zugegebenermaßen unterschiedlich ausgeprägten Bedürfnisse weitgehend durch die Leistungsbereitschaft oder Leistungsfähigkeit der Gruppe der Unbedürftigen.

Dieses System mag so lange funktionieren, wie dadurch nur ein Teil der Unbedürftigen in die Gruppe der Bedürftigen abrutscht. Die Frage bleibt jedoch, zu welchem Zeitpunkt die Ablösung der Leistungsfiktion durch Realleistung an ihre Grenzen gerät und das System zwangsläufig kollabiert. Oder, um es populärer zu formulieren: Das Ausmaß der kontinuierlichen Neuverschuldung des Gemeinwesens (verschleiernd als Neuverschuldung des – anonymen – Staates bezeichnet) zur Befriedigung der Bedürfnisse der Nicht-Leistungsträger und der Anforderungen aus dem (ebenso verschleiernd als solches bezeichneten) „Versagen“ der Einkommenswohlhabenden lässt erwarten, dass weder die Ablösung der kollektiven Verschuldung noch die Bedürfnisbefriedigung durch tatsächliche Wertschöpfung zu erbringen sein wird. Offensichtlich gelingt es nicht, Überhänge der durch Leistungsfiktion entstehenden Defizite als vorübergehende Situationen abzufangen.

Vielmehr wird eine nicht mehr haltbare Leistungsfiktion jeweils durch eine neue ersetzt. Im Sparkassendeutsch: Ein ungedeckter Kredit wird durch einen neuen Kredit abgelöst, der wiederum nur durch einen Kredit gedeckt werden kann, welchem ebenfalls keine Deckung durch Realleistungsperspektive zugrunde liegt.

Der Kollaps des Systems ist insofern nicht eine Frage des Ob, sondern eine Frage des Wann.

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