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von *Cristina Siccadi*

Aus diesem Grund ist Newman für unsere Zeit providentiell, weil er die Irrtümer, von denen er sich befreien will, meisterhaft identifiziert und klärt, und dazu bietet er sieben Kriterien an, um die Unterschiede zwischen wahren-guten Entwicklungen und Korruptionen-Deformationen zu erkennen:

Die Beständigkeit des Typus:
Der Organismus der Kirche drückt sich in verschiedenen Formen aus, aber seine allgemeine Physiognomie bleibt bestehen, genau wie der menschliche Organismus: Kind, Jugendlicher, Erwachsener, Greis, aber es ist immer derselbe Mensch. Nach Newman zeichnen sich echte Entwicklungen im Gegensatz zu falschen dadurch aus, daß bei ihnen der „Typus“ Kirche mit seinem übernatürlichen, katholischen und römischen Charakter erhalten bleibt.

Die Kontinuität der Prinzipien:
Der „Typus“ betrifft das äußere Erscheinungsbild des kirchlichen Organismus, während die Prinzipien sein Leben und seine Lehre von innen heraus formen: Wenn die Lehren von den zugrundeliegenden Prinzipien getrennt sind, können sie auf unterschiedliche Weise interpretiert werden und zu widersprüchlichen Schlußfolgerungen führen. Die Kontinuität der Prinzipien ist daher von grundlegender Bedeutung (S. 52). Newman nennt vier unveränderliche und ewige Prinzipien: das Prinzip des Dogmas, das Prinzip des Glaubens, das Prinzip der Theologie (im Glauben empfangene Wahrheiten müssen durch die Vernunft geprüft und vertieft werden), das sakramentale Prinzip (es gibt sichtbare Zeichen, die eine unsichtbare und göttliche Gabe ausdrücken und mitteilen). Newman stellt fest: „Während die Entwicklung der Lehre in der Kirche in Übereinstimmung mit den uralten Prinzipien verlief, von denen diese Lehre abstammt, haben die verschiedenen Häresien, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, auf die eine oder andere Weise […] diese Prinzipien verletzt […]“ (ebd.).

Die Kraft der Assimilation:
Aufgrund des dogmatischen Prinzips war das Christentum in der Lage, verschiedene theologische Überlegungen, philosophische Gedanken und sprachliche Ausdrücke in seine Lehre aufzunehmen, während es die fehlerhaften Aspekte verwarf, und dies, so erklärt Newman, geschah in komplexen historischen Prozessen der Konfrontation, Reinigung, Klärung und Eingliederung.

Die logische Kohärenz:
Während ihrer gesamten Existenz hat die Kirche immer mit Vernunft gehandelt und so ihre lehrmäßigen Entscheidungen getroffen, niemals instinktiv oder aus dem Gefühl heraus, man denke zum Beispiel an den logischen Zusammenhang zwischen dem Sakrament der Taufe, der Disziplin der Buße und der Lehre vom Fegefeuer.

Die Vorwegnahme der Zukunft:
Die verschiedenen Lehren bilden ein einheitliches Ganzes und sind auf kohärente Weise miteinander verbunden, weil sie immer mit der ursprünglichen Form verbunden sind. Newman veranschaulicht diese Aussage anhand der Vorwegnahme der Lehre von der Auferstehung der Toten: Die Christen haben von Anfang an die Leiber der Toten und die Heiligkeit der Reliquien der Märtyrer mit Respekt behandelt, weil all dies auf die Verherrlichung des Leibes Christi im Geheimnis Gottes zurückgeht, die die Auferstehung derer vorwegnimmt, die am Ende der Zeiten in Gott verherrlicht werden.

Das konservative Handeln:
Pater Geißler erklärt: Eine Entwicklung ist authentisch, wenn sie frühere Entwicklungen bewahrt und schützt. Wenn eine Entwicklung dem Leitgedanken oder früheren dogmatischen Definitionen widerspricht, handelt es sich um eine Korruption […] Christliche Gemeinschaften, die die Gottesmutter verehren, beten weiterhin Jesus Christus an, während diejenigen, die eine solche Verehrung ablehnen, nicht selten dazu neigen, sogar die Anbetung des Herrn aufzugeben (S. 56).

Die ewige Lebendigkeit:
Dieses Unterscheidungskriterium ist der Lackmustest. Eine Verderbnis ist vorübergehend, sie beginnt und endet nach einer gewissen Zeit; wenn sie aber andauert, führt sie zu einem Prozeß der Dekadenz und des Zerfalls. Eine gläubige Entwicklung hingegen zeichnet sich durch ihre vitale Kraft aus, die Bestand hat und so erklärt, wie die Kirche „sich mit ihrer Lehre trotz so vieler Konflikte mit Häresien durchgesetzt hat, wie sie sich gegen die Mächte dieser Welt behaupten konnte, wie sie neue Elemente in ihr Erbe integriert hat, während sie ihrer Tradition treu blieb, und wie sie sich immer wieder erneuert hat, manchmal nach Zeiten tiefer Krisen“ (S. 57). An dieser Stelle blickt Newman auf die Sünden der Kirchenglieder, die manchmal das menschliche Antlitz der Kirche entstellen, und schweigt auch nicht angesichts der Momente, in denen die Kirche „in einen Zustand fast des Deliriums“, d. h. einer vorübergehenden Bewußtlosigkeit, verfiel. Doch nach einer gewissen Zeit schenkt Gott seiner Kirche, deren oberstes Haupt er ist, neue Kraft und Vitalität. Der Zeuge der Wahrheit, der vor seiner Bekehrung von der englischen Intelligenzija verehrt und bewundert wurde und dann zurückgewiesen wurde, erklärt: „Ihre wunderbaren Erweckungen, gerade als die Welt über sie triumphierte, sind ein weiterer Beweis dafür, daß es in dem System der Lehre und des Gottesdienstes, das sie entwickelt hat, keine Korruption gibt […]. Auf ihrem Weg hält sie inne und setzt ihre Funktionen fast aus. Dann erholt sie sich und ist immer noch sie selbst: alles ist an seinem Platz und bereit zum Handeln. Die Lehre, die Praktiken, das Ansehen, die Prinzipien, die disziplinäre Organisation sind da, wo sie vorher waren“ (S. 57).

Eine heilsame Hoffnung wehen die nachdenklichen Überlegungen des heiligen John Henry Newman den verwirrten und verstrickten Seelen unserer Zeit zu, die nach festen und sicheren Lehrern dürsten, wie diesem großem Bekehrten, der in der Lage war zu erklären, was der Glaube und die Kirche Christi wirklich sind, und der bereit war, wenn nötig, so weit zu gehen, sogar mit seinem eigenen Gewissen einen Toast auszusprechen, aber nur, wenn es gut geformt und gebildet ist.

*Cristina Siccardi, Historikerin und Publizistin,
zu ihren jüngsten Buchpublikationen gehören „L’inverno della Chiesa dopo il Concilio Vaticano II“ (Der Winter der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Veränderungen und Ursachen, 2013); „San Pio X“ („Der heilige Pius X. Das Leben des Papstes, der die Kirche geordnet und erneuert hat“, 2014) und vor allem ihr Buch „San Francesco“ („Heiliger Franziskus. Eine der am meisten verzerrten Gestalten der Geschichte“, 2019).

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